Als ich bei einem der vielen Gespräche mit der Direktorin von der damaligen Schule meines Sohnes darauf hingewiesen wurde, dass es vielleicht sinnvoll wäre, meinen Sohn auf ADHS testen zu lassen, fiel ich aus allen Wolken. Hallo?? Mein Sohn ist hochsensibel und leidet nicht an einer Störung! Das war für mich sofort klar! Doch wie kommt es, dass Hochsensibilität so oft mit Störungsbildern wie AD(H)S oder sogar einer Autismus-Spektrum-Störung verwechselt wird? Das erfährst du in diesem Artikel!
Was genau ist AD(H)S eigentlich?
Nach derzeit anerkannter Definition „liegt AD(H)S vor, wenn unaufmerksames und impulsives Verhalten mit oder ohne deutlicher Hyperaktivität ausgeprägt ist, nicht dem Alter und Entwicklungsstand entspricht und zu Störungen in den sozialen Bezugssystemen, der Wahrnehmung und im Leistungsbereich von Schule und Beruf führt“.
(Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin sowie der AG _AD(H)S der Kinder- u. Jugendärzte e.V., 2007)
Jeder kennt die hibbeligen, unruhigen und unkonzentrierten Kinder, die nur schwer stillsitzen und sich kaum zurückhalten können. Doch wo endet ein stark ausgeprägter Bewegungsdrang und wo beginnt ein krankhaftes Verhalten, das ein Hinweis auf das Bestehen von Störungsbildern sein könnte?
Wo liegt die Problematik bei der Diagnose?
Diagnostiziert wird AD(H)S, indem zwei Listen mit Auffälligkeiten überprüft werden und wenn beim zu untersuchenden Kind eine bestimmte Anzahl von Symptomen erkannt wird, steht die Diagnose. Das Problem ist, dass die Beurteilung der einzelnen Punkte davon abhängig ist, wie der Diagnostiker das Verhalten einschätzt. Was für den einen schon „heftiges Rumzappeln“ ist, ist für den anderen noch der „natürliche Bewegungsdrang eines Kindes“. Die Beurteilung findet hier also sehr subjektiv statt. Außerdem wird bei einer solchen Diagnostik lediglich das Verhalten beurteilt, ohne aber der Ursache für die Symptome auf den Grund zu gehen.
Worauf sollte bei einer Diagnostik geachtet werden?
Bei einer guten und vertrauenswürdigen Diagnosestellung sollten also UNBEDINGT folgende Punkte berücksichtigt werden:
- Ernährung (vielleicht leidet das Kind an einem Eisenmangel und ist deshalb so antriebslos)
- Medizin/Biologie (vielleicht hat das Kind eine Schilddrüsenunterfunktion und ist deshalb so gereizt)
- Familiäres/soziales Umfeld (vielleicht gibt es daheim ständig Streit zwischen den Eltern, weshalb das Kind unter Schlafmangel leidet und deshalb so unkonzentriert und aggressiv ist)
- Umweltgifte und Drogen (vielleicht ist das Kind irgendwelchen Giftstoffen ausgesetzt und ist deshalb so fahrig)
- Hochsensibilität/Hochbegabung (vielleicht hat das Kind einen sehr hohen IQ und zeigt deshalb Verhaltensweisen eines unterforderten, gelangweilten Kindes)
All die oben genannten Punkte würden Handlungsbedarf in verschiedenen Bereichen aufzeigen, doch das Kind hätte nicht AD(H)S!
Was ist die Autismus-Spektrum-Störung?
Früher waren Autismus und das Asperger-Syndrom geläufige Begriffe. Vor nicht allzu langer Zeit wurden diese und weitere Entwicklungsstörungen in die große Übergruppe „Autismus-Spektrum-Störung“ zusammengefasst. Hier spielen die unterschiedlichen Ausprägungen in folgenden zwei Kernbereichen eine Rolle.
- Beeinträchtigung der sozialen Interaktion und Kommunikation
- restriktive, repetitive Verhaltensmuster, Interessen und Aktivitäten
Autistische Menschen haben also Schwierigkeiten in der sozialen Interaktion, der sozialen Kommunikation und dem sozialen Verständnis.
Weil viele hochsensible Kinder sehr zurückhaltend und beobachtend sind, wird dies oft mit dem (ehemaligen) Asperger-Syndrom verwechselt. Dies gilt vor allem auch für Jungs/Männer, die introvertiert und daher anfällig für emotionalen Rückzug sind. Oft ist eine offizielle Störung („Krankheit“) gerade in religiösen Kulturen auch die akzeptablere Erklärung für die Familie oder die Gemeinschaft, wenn Jungs keine Freundinnen haben.
Welche Parallelen gibt es nun zur Hochsensibilität?
Da sich bestimmte Merkmale der (ehemaligen) Asperger-Syndrom-Symptome denen der Hochsensibilität bzw. Hochbegabung ähneln, kommt es hier bei unvollständiger bzw. vorschneller Diagnostik sehr oft zu Verwechslungen. Einige typische Merkmale, die hier parallel zu finden sind, wären zB:
- hervorragendes Gedächtnis für Ereignisse und Fakten
- verbale Frühreife
- redet viel und stellt ständig Fragen
- erhöhte Empfindlichkeit gegenüber Reizen
- asynchrone Entwicklung
- stark ausgeprägter Gerechtigkeitssinn
- starker Fokus auf eigene Interessen
- Aufmerksamkeitsprobleme bei Themen, die sie nicht interessieren
- Überempfindlichkeit gegenüber Licht, Geräuschen, Gerüchen usw.
Was ist bei einer Diagnostik also wichtig?
Voraussetzung ist, dass sich der/die Diagnostiker/in auch mit Hochsensibilität und Hochbegabung beschäftigt und diese in allen Ausprägungen kennt. Außerdem sollte das Verhalten des Kindes unbedingt in allen Umgebungen beobachtet werden. Nur die Aussage der Eltern oder des Schulpersonals ist nicht ausreichend für eine ernstzunehmende Diagnose. Da „typischen“ Autisten eine angemessene soziale Interaktion und Empathiefähigkeit abgesprochen wird, sollte auch geprüft werden, ob das Kind wahrnimmt, wie es auf andere wirkt. Gerade hochsensible Kinder merken genau, wie sie auf andere wirken und viele introvertierte Kinder passen sich ihrem Umfeld stark an. Abschließend stellt sich die Frage, ob das problematische Verhalten durchgängig in allen Umgebungen und Situationen vorhanden ist. Sollte sich das Kind nämlich zB bei den Großeltern „besser“ verhalten, als in der Schule, muss eine Autismus-Spektrum-Störung als Diagnose ausgeschlossen werden.
(angelehnt an den Text von Tina Pichler, Bildungsinstitut für Potenzialpädagogik in Wien)